Das Gesicht des Stürmers Tarik Sektioui sagt alles. Er kann nicht glauben, dass der Ball, den er gerade aus zwei Metern Entfernung aufs Tor geköpft hat, nicht ins Tor geflogen ist. Er kann nicht glauben, dass der Torhüter, wie die Figur aus einem Kung-Fu-Comic, mit dem linken Fuß voraus in die linke Torecke gesprungen ist. Er kann nicht glauben, dass Manuel Neuer damals, 2008 im Stadion in Porto, einen Ball gehalten hat, den so wahrscheinlich noch kein Torhüter davor gehalten hat.Wie in jedem Jahr am 5. März holen Mitglieder der Fußballcommunity des FC Schalke 04 auch 2025 die pixeligen Videos dieser sagenumwobenen Nacht in Porto hervor, die sich an diesem Datum jährt. Im Mittelpunkt: Manuel Neuer, der im Achtelfinalrückspiel der Champions League auch die Unhaltbaren hält. Am Ende gewinnt Schalke im Elfmeterschießen, und die Welt staunt über diesen blonden Jungen aus Gelsenkirchen-Buer, der umgeben ist von dieser Aura der Unbezwingbarkeit, von der Mit- und Gegenspieler später noch oft erzählen werden.Der 21 Jahre alte Neuer spielt damals seine zweite Saison im Tor der Schalker Profis, weil er im richtigen Moment am richtigen Ort ist. Und weil Mirko Slomka 16 Monate zuvor Probleme hatte. Eigentlich war Neuer nämlich nur Ersatzmann für den Altmeister Frank Rost, bis der Schalker Trainer ihn im November 2007 gegen den FC Bayern München völlig überraschend aufstellte. Angeblich hatte Rost Slomka in den Tagen zuvor als „Ko-Trainer“ beleidigt.Neuers Einstieg war eine Strafe für RostDie Beförderung des Talents war eher eine Strafe für Rost als ein Akt der Wertschätzung für Neuer. Und zunächst nur ein Randthema. Die Aufmerksamkeit galt einem unbeliebten Trainer und Rost, von dem es hieß, er habe Geheimnisse aus der Kabine der „Bild“-Zeitung verraten. Das Nebenprodukt: Neuer spielte ab sofort immer.Dass Jonas Urbig nun immer spielen wird, ist nicht anzunehmen. Aber dass er nun erst einmal weiter im Bayern-Tor steht, dass der mittlerweile 39 Jahre alte Manuel Neuer länger ausfallen wird als gedacht, mal wieder, ist ein Moment, wie es ihn in einem Torwartleben nicht oft gibt. Es spricht viel dafür, dass es ein Moment ist, in dem eine Torwartkarriere gemacht wird – oder aber, für Torhüter ist das so schwer vorherzusagen wie der Schuss des Schützen beim Elfmeter, vielleicht eben auch nicht.Zuletzt gut im Spiel: Oliver BaumannReutersEinen ähnlichen Moment gab es in der vergangenen Woche auch bei der Nationalmannschaft. Als Julian Nagelsmann bekannt gab, dass Oliver Baumann für die beiden Nations-League-Spiele gegen Italien im Tor stehen würde. Auch wenn der Bundestrainer ankündigte, dass danach das Rennen wieder offen sei, darf man spätestens nach Baumanns starken Leistungen davon ausgehen, dass sich damit für Alexander Nübel das Fenster schloss.Ein neuer Neuer oder nur eine neue Nummer 1?Jene kurze Zeitspanne, in der vielleicht die Chance bestand, doch noch das Versprechen einzulösen, das mit seinem Namen verbunden war, als Nummer eins der Nationalmannschaft – wenn auch nur in Vertretung von Marc-André ter Stegen, der, wenn er fit und in Form sein sollte, im WM-Jahr 2026 endlich seinen Moment haben könnte.Es kann also gut sein, dass man auf die vergangene Woche einmal zurückschauen und sagen wird: Das war einer dieser Momente, in dem sich nicht nur eine Torwartkarriere, sondern vielleicht sogar eine ganze Torwartkonstellation entschieden hat. Über der aber noch eine andere Frage steht: wie gut die deutschen Torhüter noch sind. Ob es irgendwann einen neuen Neuer gibt oder „nur“ eine neue Nummer eins.Zurückgefallen: Alexander NübeldpaBerlin, Alte Försterei, 15. März: In der 85. Minute seines zweiten Bundesligaspiels für den FC Bayern kommt Jonas Urbig, 21 Jahre alt, aus seinem Tor, um den Ball zu klären, der durch den Fünfmeterraum fliegt. Er erwischt den Ball, aber schaufelt ihn nach vorn, sodass der Berliner Stürmer Benedict Hollerbach ihn aus kurzer Distanz ins Tor schießen kann. 1:1. So geht das Spiel aus – und das Blame Game los. In den Sportsendungen und Sportberichten ist der Schuldige sofort identifiziert: Urbig.Als Julian Nagelsmann in der Woche danach in Mailand ganz grundsätzlich auf die Situation der Torhüter in Deutschland angesprochen wird, spricht er von sich aus den Urbig-Moment in Berlin an und hält ein Plädoyer, das so endet: „Der Torwart, der nur auf der Linie bleibt und sagt, dass er ja keinen Fehler machen will, wird nie ein großer Torwart. Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir alle, wenn wir uns wünschen, dass junge Spieler auch Fehler machen dürfen, auch fair damit umgehen und dann nicht in jeder Sendung so extrem auf dem Jungen rumhacken, weil dadurch wird er nicht besser. Er wird besser, weil er da hingeht und sich vielleicht mal einen Millimeter verschätzt hat.“Marc Ziegler fordert „Fehlerkultur“Das ist, wenn man es zusammenfasst, auch das, was Marc Ziegler sagt, wenn man mit ihm über die Situation der deutschen Torhüter spricht. Der frühere Bundesligatorwart ist „Head of Goalkeeping“ beim Deutschen Fußball-Bund (DFB). Auch er findet, dass es eine andere „Fehlerkultur“ in der Bewertung brauche. „Torhüter müssen innerhalb von Sekundenbruchteilen eine Entscheidung treffen, da geht es um Zentimeter, alles muss perfekt passen“, sagt er. „Leider wird zu sehr auf einzelne Spiele geschaut. Wir sollten den Jungs mehr Zeit geben. Natürlich müssen sie liefern. Aber ein einziges Spiel auf die Goldwaage zu legen, halte ich doch für grenzwertig.“ Über Urbig sagt er: „Wie er vorher in der Champions League reingekommen ist – das war für einen Einundzwanzigjährigen schon bemerkenswert. Er bringt alles mit, was es braucht.“Dass sich Vertrauen auszahlt, zeigt sich bei den Leistungen von Noah AtuboludpaWas es aber vor allem braucht: Spiele, viele Spiele, auf möglichst hohem Niveau, in jedem Fall aber in einer der drei Profiligen. Um der Toptorwart von morgen zu sein, soll das Talent von heute mit 23 Jahren schon 200 Spiele auf dem Buckel haben. Ziegler plädiert, genauso wie Nagelsmann, für mehr Vertrauen, so wie es Gianluigi Donnarumma genoss, der in dieser Hinsicht als Benchmark gilt. „Dass sie das können, kann man an Noah Atubolu sehen. Er hat gezeigt, dass das Vertrauen in einen jungen Torhüter belohnt wird. Auch Urbig hat gezeigt: Ihr könnt uns reinwerfen, wir bringen Leistung.“Wenn der FC Bayern im April gegen Inter Mailand um das Halbfinale der Champions League spielt, wird Neuer, der in München seit 2011 die Nummer eins ist, wohl mindestens im Hinspiel fehlen. Sein Ersatz: Jonas Urbig, der früher in dieser Saison seinen Stammplatz verloren hat – beim 1. FC Köln, in der zweiten Bundesliga. So fing das alles an.Vertrauen war stärker als die ZweifelSo wechselte er schon in der Winterpause für sieben Millionen Euro nach München, wo die Verantwortlichen ihn für das größte Torhütertalent seiner Generation halten. Und so kam sein erster Moment, als er nach Neuers Verletzung in dem Champions-League-Spiel der Bayern gegen Leverkusen im März das erste Mal eingewechselt wurde. Seitdem hat er 122 Minuten in der Champions League und 180 Minuten in der Bundesliga gespielt. Doch schon nach diesen 302 Minuten kann man sagen, dass die entscheidende Frage nicht nur sein wird, ob Urbig die Chance sofort ergreifen kann, sondern wahrscheinlich auch, wie schnell sie ihm im Zweifelsfall wieder genommen wird.Die Fragen aller Fragen: Kommt Neuer zurück und in welcher Form?dpaAls Noah Atubolu sich beim SC Freiburg vor drei Jahren der Schwelle zum Erwachsenenfußball nähert, ist allen im Klub klar, was möglich sein könnte. Er wird als zweitbester Torhüter im Klub gesehen, sitzt aber nicht in der Bundesliga auf der Bank, sondern spielte als Teenager in der U23 in der Regionalliga und in der dritten Liga. Als er dann mit 21 Jahren Torhüter der Bundesligamannschaft wird, hat er bereits 83 Spiele im Männerfußball absolviert und dennoch erst mal eine harte Zeit vor sich. Er macht immer wieder Fehler, wahrscheinlich hätte der Sportklub mit einem erfahrenen Torhüter tatsächlich den einen Punkt mehr gesammelt, der am Ende zur Qualifikation für den Europapokal fehlt. Aber das Vertrauen war stärker als die Zweifel.Am Beispiel Manuel Neuer kann man sehen, dass dieses Vertrauen nicht nur im Verein, sondern auch in der Nationalmannschaft manchmal durch Zufall entsteht. Rückblende, kurz vor der WM 2010: Als Neuer ins deutsche Tor befördert wird, so die deutsche Torhüterkonstellation für die nächsten 14 Jahre neu sortiert, ist das einem dieser besonderen Momente geschuldet. Nicht nur seine Beförderung auf Schalke beruht auf günstigen Umständen, auch zu Deutschlands Nummer eins wird Neuer nicht, weil der damalige Bundestrainer Joachim Löw so überzeugt von dem Schalker ist, sondern weil René Adler sich verletzt. Neuers Konkurrent um die Nummer eins heißt in jenem Sommer des deutschen Aufbruchs Tim Wiese, sein zweiter Stellvertreter Hans Jörg Butt. War das in diesem Moment ein größeres Versprechen als die Situation, die es heute ist?Über Nübels Entscheidung wundern sich vieleTrotzdem ist da ein Rumoren im Fußballland: Der Eindruck, dass das deutsche Torhütermodell Schaden genommen hat über die Jahre. Andreas Köpke, der frühere Bundestorwarttrainer, sagte vor drei Jahren in einem „Kicker“-Interview: „Da droht uns schon eine kleine Delle.“ Auch weil Nübels Weg anders gelaufen sei, als viele sich das vorgestellt hatten – ob es nun an der Entwicklung lag oder am richtigen Timing bei den Karriereentscheidungen.Als Nübel im Sommer 2020 den Neuer macht, als er vom FC Schalke zum FC Bayern wechselt, wundern sich nämlich nicht wenige. Weil in München eben noch Neuer spielt, der Torhüter, der immer spielen will. In seiner ersten Saison in München darf Nübel dann nur viermal spielen und will danach sofort verliehen werden. Und obwohl er seinen Vertrag in München seitdem immer wieder verlängert, sagt er im Sommer 2024 mit Blick auf die Konkurrenz mit Neuer einen Satz, den er so ähnlich schon mehrmals gesagt hat: „Solange er bei Bayern ist, macht es wenig Sinn, dass ich zurückkomme.“Sein Sonderweg hat Nübel, mittlerweile 28 Jahre alt, eine Saison gekostet, wenn man sieht, welche Torhüterentscheidungen gerade in München und in der Nationalmannschaft getroffen wurden, vielleicht sogar noch mehr. Und auch wenn der Weg, den Jonas Urbig gerade geht, nicht so offensichtlich in eine Sackgasse führt, zeigt er eines: dass es gerade für einen Torhüter nicht nur auf die Entscheidungen auf dem Platz ankommt.Der Schweizer Patrick Foletti, Torwarttrainer der Schweizer Nationalmannschaft und Mastermind der Torhüterausbildung, die unter anderem Gregor Kobel, Yann Sommer oder Roman Bürki hervorbrachte, sagt aus der Außenperspektive über die Neuer-Jahre und das Danach: „Das erinnert mich an einen Mechanismus aus der Privatwirtschaft: Wenn man Erfolg hat, wird man vielleicht ein bisschen weniger konsequent und schwebt auf Wolke sieben, und dann vergisst man, dass die Arbeit nie zu Ende geht. Das ist vielleicht passiert in Deutschland, wie auch bei uns. Man muss immer an das Übermorgen denken oder sogar darüber hinaus.“Eine „Torwart-DNA“ mit zehn BausteinenDFB-Torwartchef Ziegler verweist darauf, dass der DFB vor acht Jahren mit seiner Akademie das Projekt „N 28“ ins Leben rief, um die Suche nach einem Nationaltorhüter für 2028 zu forcieren – aus einer Position der Stärke heraus, wie er betont. Der Verband formulierte eine „Torwart-DNA“ mit zehn Bausteinen, die das Torwartspiel definieren. Von einer „Delle“ möchte er nicht sprechen. Er sagt: „Seit Manuel Neuer haben es im Schnitt pro Jahr mindestens ein bis zwei Torhüter pro Jahrgang in die Bundesliga geschafft.“ Aber eben auch nicht in jedem Jahrgang. Für manche in den jüngeren Jahrgängen, geboren um 2000, wirkten die Tore mitunter wie verrammelt „von Toptorhütern, mit internationaler Erfahrung, teilweise Weltklasse“, wie Ziegler sagt. „An denen vorbeizukommen, ist brutal schwer.“ Was er meint: dass es keine Talentdelle gab, sondern eher eine Chancendelle.Wobei es aber immer auch auf diejenigen ankommt, die sie ergreifen könnten, ihre Qualität und ihre Entschlossenheit. Manche Beobachter haben unter deutschen Torhütern in der jüngeren Vergangenheit einen Hang zur Komfortzone ausgemacht: lieber in der Bundesliga auf der Bank sitzen, als sich in der zweiten oder dritten Liga ins Getümmel stürzen. Der Trend jedenfalls, sagt Ziegler, zeige „wieder nach oben“, das lasse sich auch im internationalen Vergleich erkennen. Der Anteil nationaler Torhütertalente (25 Jahre und jünger) liegt in Deutschland über die drei Profiligen hinweg in der Saison 2024/25 bei 40 Prozent. In Italien (30 Prozent), Frankreich (29 Prozent), Spanien (24 Prozent) und England (24 Prozent) sind die Werte deutlich geringer. In den vergangenen vier Spielzeiten war Deutschland das einzige Land, in dem die Entwicklung immer positiv war. Noch „ausbaufähig“ sei die Zahl der jungen Torhüter, die in er der ersten Liga auch spielen. „Aber in der zweiten und dritten Liga haben wir einige hochtalentierte Torhüter. Ob das zum Beispiel Max Weiß vom KSC ist, Nahuel Noll in Fürth oder Tjark Ernst bei Hertha. Da sind wir auf einem guten Weg.“„Räume im Spielaufbau erkennen“Der Schweizer Foletti verweist darauf, dass Torhüter in der Fußballgegenwart überall etwas länger für den Schritt auf das höchste Niveau brauchen als in den frühen Neuer-Jahren. Sie müssten den auf vielen Ebenen beschleunigten Fußball „viel besser verstehen“ als vor zehn oder 20 Jahren, „dieses Verständnis macht das Ganze viel komplexer“. Neben der klassischen Torwarttechnik und dem Verteidigen der Torlinie müsse ein kompletter Keeper „Räume im Spielaufbau erkennen“, bei gegnerischen Angriffen „eine sehr große Fläche kontrollieren“ und im höchsten Tempo „mit dem Verteidigungsblock harmonieren“. Das sind auch Punkte, die sich in der DNA des DFB wiederfinden. Anders als ein Flügelstürmer könne ein junger Torwart nicht einfach drauflosspielen, weil kleine Aktionen wie Urbigs Zweikampf in der Luft von Berlin sofort Grundsatzfragen aufwerfen.Seit Manuel Neuer vor 17 Jahren begonnen hat, Grenzen zu verschieben, drängt sich aber immer noch eine andere Frage auf, wenn junge Keeper wie Urbig und Atubolu oder einige Jahre zuvor Baumann, Nübel oder ter Stegen durch die Strafräume fliegen: Kann der ein neuer Neuer werden? Es ist der natürliche Maßstab, aber es ist auch eine Erwartungsfalle.Vielleicht dämmert im Torwartland die Erkenntnis, dass es nur einen Manuel Neuer gibt, einen, bei dem alles zusammenkam, Talent und Moment. Und dass auch die anderen Torhüter, die seitdem als die weltbesten gelten, nicht so komplett und so konstant sind wie der Neununddreißigjährige: Nicht Emiliano Martínez, der verwegene Welttorhüter aus Argentinien, nicht Unai Simón, der spanische Europameister, und auch nicht Donnarumma, wie in der vergangenen Woche zu sehen war. Auch bei Ziegler klingt Hochachtung durch für das, was Neuer, dieser komplette Torwart, verkörpert, immer noch.Bislang liegt es eher an den Zweifeln an den anderen, dass sich im Torwartland der Glaube an etwas hält, das zwar nicht als völlig ausgeschlossen, aber doch als sehr unwahrscheinlich gelten kann: dass sich für Neuer im Sommer 2026 noch einmal ein Fenster öffnet.